Auf unserer zweiten und gleichzeitig kürzesten Etappe mit der Transsibirischen Eisenbahn fahren wir am Ufer des Baikalsees entlang. Nach etwa 1.000 km und einer weiteren Stunde Zeitverschiebung erreichen wir Tschita mitten in der Nacht und verlassen die Transsib.
Mit doppelter Vorfreude starten wir unsere zweite Etappe der Transsibirischen Eisenbahn. Wir freuen uns zum einen auf die Strecke, die auf einer Länge von etwa 200 km am Baikalsee entlangführt und landschaftlich sehr schön sein soll. Zum anderen haben wir auch Lust, eine neue Region von Russland zu entdecken. Das etwas mehr als 16 Zugstunden entfernte Tschita liegt nämlich in dem Teil Russlands, in dem die burjatische Kultur weit verbreitet ist. Die Stadt soll sehr wenig touristisch erschlossen sein, vor allem nicht für westliche Touristen. Laut unseres Reiseführers würden Informationen und Touren außer in russisch höchstens noch auf chinesisch angeboten. Wir werden sehen…
In Irkutsk sind wir früh am Bahnhof, damit wir die Einfahrt unserer Bahn beobachten können. Zum ersten Mal treffen wir auf eine geführte Reisegruppe, die gemeinsam Zug fahren möchte. Leider blockieren sie die Türe am Aufgang zum Bahnsteig. Raus gehen möchte bei -19°C offensichtlich niemand, aber natürlich möchte jeder der erste beim Einsteigen sein. Wir grinsen uns an, weil dies so typisch und auch ein bisschen lustig ist und kommen mit unserem Gepäck nur mühsam durch die Menge auf den Bahnsteig. Es liegt wieder Kohlestaub in der Luft, das Atmen fällt uns schwer. Als unser Zug angerollt kommt, gehen wir zu unserem Waggon – und da ist die Reisegruppe auch schon wieder und schiebt uns weg… Wir nehmen es gelassen, gehen zur Seite und warten ab. Kurze Zeit später sind wir dann auch im Zug und können es uns bequem machen.
Wir haben wieder ein oberes und ein unteres Bett gegenüber von den Gangplätzen im Großraumliegewagen gewählt. Die Platzwahl war uns in diesem Abschnitt besonders wichtig, da wir kurz hinter Irkutsk für etwa 200 km am Baikalsee entlangfahren und auf der „richtigen“ Seite sitzen möchten. Diese Ausblicke möchten wir uns nicht entgehen lassen. Doch leider haben wir nicht mit der schmutzigen Fensterscheibe gerechnet… (Einige Eisenbahnfans empfehlen ernsthaft, einen Fensterwischer mit langem Griff mitzunehmen, um während der Fahrt die Scheibe zu säubern. Diese Strategie geht allerdings nur in der ersten oder zweiten Klasse auf, wo sich der obere Teil des Fensters aufklappen lässt.) Leider sind zudem die Gangplätze in unserem Abteil mit frischer Bettwäsche für zusteigende Mitfahrer belegt. Aber wir haben meistens trotzdem eine sehr gute Aussicht und sind zufrieden.
Die Route, die wir entlang des Baikalsees nach Tschita fahren, hat sich übrigens im Laufe der Zeit einige Male geändert. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Transsibirische Eisenbahn eine kurze Zeit am Baikalsee nicht durchgehend. Von Irkutsk fuhr die Bahn am südlichen Ufer der Angara bis zu dem kleinen Ort Port Baikal, der gegenüber von Listwjanka am anderen Ufer der Angara liegt. In Port Baikal wurden die Züge auf Fähren verladen und fast 80 km bis zum Ostufer des Baikalsees transportiert. Ab dort fuhren die Züge dann weiter Richtung Osten. Aufgrund der Vereisung des Baikalsees war so kein ganzjähriger durchgehender Betrieb der Transsib möglich. (Ausnahme: Im Jahre 1904 wurden Gleise auf dem Baikalsee verlegt und die Züge von Pferden über das Eis gezogen. Russland war im Krieg mit Japan und auf die Zugverbindung angewiesen. Der Transport funktionierte weitgehend reibungslos – nur eine Lok ist im See versunken…)
Kurze Zeit später wurden die Schienen für die Strecke von Port Baikal bis zum Endpunkt der Fähre verlegt. So konnten die Züge ohne eine Fährüberfahrt verkehren. Das war die Zeit, in der die Transsibirische Eisenbahn die längste Strecke am Baikalufer entlangfuhr. Ab 1950 wurde eine direkte Verbindung von Irkutsk aus gebaut, auf der wir nun auch unterwegs sind.
Nach der ersten Stunde unserer Zugfahrt in Gesellschaft sind wir wieder alleine in unserem Abteil und genießen die Fahrt am Baikalsee entlang. Zuerst fahren wir aus etwa 800 m Höhe eine kurvenreiche Strecke zum See hinunter. Wir blicken auf eine riesige weiße Fläche bis zum Horizont. Unterbrochen wird diese lediglich von einigen Fahrspuren auf dem See, die zu bunten Punkten am Horizont führen – den Zelten der Eisfischer. Das Weiß des Himmels und des Sees vermischen sich und der Horizont ist teilweise schwer zu erkennen. Dieses sogenannte „white-out“ kannten wir bisher nur von Island. Insgesamt wird die Strecke kurvenreicher, da sich der Schienenverlauf dem Ufer des Sees anpasst. Dadurch können wir auch einige Male die Brücken sehen, die über die zahlreichen Zuflüsse des Baikalsees führen (von denen es insgesamt mehr als 300 gibt) und die wir mit der Transsib überqueren.
Am Ufer des Sees sehen wir immer wieder interessante Eisformationen. Manchmal sieht es so aus, als wenn die Wellen auf ihrem Weg zum Ufer einfach eingefroren wären. In anderen Abschnitten des Ufers sehen wir übereinander gestaptelte Eisplatten, ähnlich denen, die wir in Listwjanka bei unserem Spaziergang auf dem Baikalsee aus nächster Nähe bewundert haben.
Immer wieder kommen uns gefühlt ewig lange Züge entgegen, die uns die Sicht nehmen. Einmal dauert der Gegenverkehr fast eine Minute. Wir können kaum abschätzen, wie lang der Zug wohl gewesen sein muss. Dies war uns auf dem ersten Teilstück von Moskau nach Irkutsk nicht so sehr aufgefallen. Nachdem wir das Ufer des Baikalsees verlassen haben, fahren wir zunächst wieder durch Wälder.
Am Nachmittag erreichen wir Ulan-Ude, die heutige Hauptstadt der Republik Burjatien. Wer von Moskau nicht nach Wladiwostok fährt, sondern in Ulan-Ude abbiegt und durch die Mongolei weiter nach Peking fährt, der hat sich übrigens nicht für die Transsibirische, sondern die Transmongolische Eisenbahn entschieden.
Hinter Ulan-Ude ändert sich die Landschaft ziemlich abrupt und das Gelände wird von steppenartigen Gebieten mit Bergketten im Hintergrund geprägt. Wir sind relativ nah an der Mongolei und bekommen eine Vorstellung, wie es dort wohl aussieht.
Auffällig ist, dass die Anordnung und das Aussehen der Häuser deutlich anders ist als im westlichen Sibirien. Bisher hatten wir vor allem vereinzelte Häuser mit riesigen Grundstücken in den Hügellandschaften verstreut gesehen. Diese Holzhäuser waren aufwendig verziert, meist mit den typischen Holzfenstern. Die Dörfer, die an der Bahnstrecke hinter Ulan-Ude liegen sind dagegen viel dichter bebaut und mit klar erkennbaren Grenzen versehen. Schon aus großer Entfernung sind diese Ansammlungen nah beieinander stehender Häuser gut zu erkennen. Die einzelnen Häuser wirken rein optisch funktioneller und deren Bewohner scheinen kaum eigene Grundstücke zu haben.
Bevor wir in der Nacht Tschita erreichen, halten wir am Abend noch in der kleinen Stadt Chilok und bekommen Gesellschaft von einem anderen Mitreisenden aus unserem Waggon. Dieser hatte uns bereits während der Pause in Ulan-Ude mit den Worten „deutsch deutsch“ angesprochen und gegrinst. Anscheinend hat er Wortfetzen unserer Unterhaltung verstanden und wollte ein Gespräch mit uns beginnen. Während der Fahrt bleibt er auf dem Weg zum Samowar einige Male bei uns stehen und möchte uns irgendetwas erzählen. Er kramt in seinen Deutsch-Grundlagen aus der Schule. Wenn er sich an einzelne Begriffe, ganze Sätze oder Zahlen erinnert, freut er sich riesig und ist sichtbar stolz. Falls ihm etwas nicht mehr einfällt lacht er herzlich. Durch seine positive und fröhliche Art ist es eine schöne Begegnung.
Nach dem letzten längeren Stop in Chilok kommt er dann mit seiner Teetasse zu uns – und bleibt. Er setzt sich einfach auf das untere Bett gegenüber von uns, auch wenn dies seit Chilok von einer Frau belegt ist, die dort liegt und schlafen möchte. Wir vermuten, er hat sich während der Pause in Chilok eine Übersetzungsapp auf sein Handy geladen, denn dieses bringt er nun mit. Dies hilft uns sehr. So erfahren wir noch mehr über ihn und sein Leben und bekommen einige Fotos zu sehen. Im Gegenzug zu dem schwarzen Tee, den er uns schenkt, geben wir ihm Pfefferminztee aus Deutschland zum Probieren. Auch wenn er dies nicht explizit sagt, ist ihm der Tee doch sehr suspekt. Er murmelt etwas von „Krankheit“… In Russland ist Tee eben schwarz (oder maximal noch grün) und alles andere Medizin.
Die Fahrt ist sehr kurzweilig und bald nähern wir uns unserem Ziel. Wie eigentlich bei jedem Halt bisher, denken wir an einen entspannten Stop. Eine halbe Stunde bevor wir ankommen wird es jedoch unruhig in unserem Waggon und die ersten Leute beginnen eine Schlange für den Ausstieg zu bilden. Warum das denn nun? Ausgerechnet in der relativ kleinen Stadt Tschita? In unserem Abteil direkt neben dem Ausgang sind wir schon bald in unserer Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Durch unsere Erfahrung der ersten Bahnfahrt gelingt uns das Packen trotzdem recht problemlos und wir sind dann auch startklar. In Tschita angekommen, lassen wir erst einmal alle anderen vor und sind erstaunt, wie schnell es sich am Bahnhof wieder leert. Warum so viele Menschen ausgerechnet hier aussteigen, können wir uns nicht erklären.
Unsere Unterkunft in Tschita liegt in der Nähe des Bahnhofs. Wegen der sehr verrußten Luft, ist der Weg anstrengender als gedacht und wir sind froh, als wir das Hostel erblicken. Es ist wirklich erschreckend, wie viele Menschen über die meiste Zeit des Jahres mit diesem Ruß in der Luft leben und wie beschwerlich dies sein muss. Aber geheizt werden muss eben auch…
Vor unserem Hostel stehen wir trotz angekündigter 24-Stunden-Rezeption und Angabe unserer Ankunftszeit erst einmal vor verschlossenen Türen. Na toll! Wir klopfen und klingeln mehrmals, aber niemand rührt sich. Wir sind müde und wollen einfach nur noch ins Bett. Wir sind auch zu müde um uns aufzuregen oder irgendetwas zu hinterfragen und bereiten uns seelisch darauf vor im Flur des Gebäudes auf den Holzstühlen zu übernachten. Wir klopfen, warten und klopfen weiter und nach einer Ewigkeit öffnet sich dann doch die Tür. Eine ältere Dame mit zerzausten Haaren und Kissenabdruck im Gesicht öffnet uns. Wie wir dann sehen schläft sie im Aufenthaltsbereich des Hostels. Wir checken schnell ein und legen uns auch schlafen. Morgen wollen wir ausgeruht sein, denn wir planen ein kleines Abenteuer…
Wir sind schon voller Vorfreue auf die nächsten Tage und erzählen Euch bald mehr von Tschita und Bagdarin. Die Fahrt nach Tschita war jedenfalls interessant, lustig und entspannt.
Viel Spaß beim Lesen und Kommentieren wünschen Euch Thomas und Jenny
Wenn ihr alles so schön ausführlich berichtet, wird das hinterher ein ganzes Buch. Aber es ist auch sehr interessant.
Danke. Es freut uns, dass es interessant ist. Von uns aus darf gerne noch viel mehr dazu kommen * grins