Diesen Beinamen trägt die Stadt Irkutsk in Sibieren jedenfalls. Auf unserem Städtetrip möchten wir herauszufinden, warum das so ist und ob an diesem Vergleich etwas dran ist – und natürlich alle Holzhäuser sehen…
Nach einem tollen Tag auf dem Baikalsee kommen wir abends mit der Marschrutka von Listwjanka in Irkutsk an. Der Weg zum Hostel ist etwas länger als gedacht (weil die Stadt größer und der Maßstab auf der Karte kleiner ist als gedacht *grins) und wir gehen mit dem Gepäck durch die – abends sehr leere – Fußgängerzone. Wir sind müde und hungrig von dem langen Tag an der frischen Luft.
Auf einmal müssen wir beide lachen, sehen wir doch einen Laden in der Fußgängerzone, der „Köln“ heißt. Etwas verwundert gucken wir noch einmal hin, aber der Laden heißt wirklich so und es handelt sich dabei um den örtlichen Herrenausstatter. Später erfahren wir, dass in Sibirien häufig deutsche Städtenamen als Namen für Einkaufsläden oder Produkte verwendet werden. Warum das so ist, kann uns allerdings niemand erklären.
Bald darauf erreichen wir das Hostel und sind begeistert. Es heißt Rolling Stones (falls jemand von Euch mal nach Irkutsk kommt: Wir können es sehr empfehlen!), ist sehr nett eingerichtet, und wir werden mit der namensgebenden Musik begrüßt! Die Schlafkabinen in unserem Dorm sind sehr geräumig, jeder hat eigene Steckdosen, eine eigene Ablage und Kleiderstange und wir können sogar unsere Rücksäcke dort ausbreiten! Die Küche ist super ausgestattet und es gibt viele Sachen, wie Nudeln, Reis, Haferflocken, Tee usw. kostenlos. Wir fühlen uns aufgrund der tollen Atmosphäre sehr willkommen.
Wir legen nur schnell die Rucksäcke ab, ziehen uns die Schuhe wieder an (wie eigentlich in jedem Hostel in Russland, müssen wir uns auch hier vor dem Eingang die Schuhe ausziehen – bei dem Wetter eine gute Idee, wie wir finden) und gehen noch schnell in den Supermarkt um die Ecke. Dabei fällt uns ein Regal mit Werkzeug ins Auge… Die Marke lautet: „Kölner – Der beste Assistent“. Haha… Wieder müssen wir lachen und machen das zweite Handyfoto, was noch an diesem Abend an unsere Lieben nach Köln geschickt wird.
Zurück im Hostel treffen wir wieder die beiden Reisenden, Mutter und Tochter, mit denen wir uns bereits in Listwjanka unterhalten hatten und freuen uns darüber. Während des Kochens und auch nach dem Essen tauschen wir uns weiter über die Erlebnisse und Reisepläne aus. Nach kurzer Zeit kommt noch eine andere Reisende hinzu. Wir hatten sie in Listwjanka nur kurz im Hostel gesehen, weil sie bei unserer Ankunft abgereist war.
Wir freuen uns, dass sie nicht die übliche erste Frage stellt, wo wir waren oder was wir noch machen. Nein, als erstes gibt sie uns ein Feedback, zu unserem Verhalten, was sie in Listwjanka beobachtet hat. Ich bin überrascht und gerührt (es ging darum, dass wir wohl sehr gelassen reagiert haben, als wir im Hostel in Listwjanka etwas unfair behandelt wurden). Später erfahren wir noch ihren Namen, sie heißt Véronique. Das passiert uns so oft: Wir kommen mit jemandem ins Gespräch, es ist nett, man verquatscht sich und nach Stunden weiß noch keiner vom anderen, wie er heißt… Kennt ihr das auch? In guter Gesellschaft haben wir auf jeden Fall einen schönen Abend.
Am nächsten Morgen können wir unsere Unterhaltung mit Véronique fortsetzen, da wir sie gleich beim Frühstück wieder treffen. So eine nette und interessante Person! Über den Geisterglauben und die Schamanen, denen man hier überall begegnet, tauschen wir uns aus. Véronique war lange in China und erzählt von ihren Erfahrungen mit der traditionellen chinesischen Medizin und der Kraft des Unterbewusstsein. Wir sind fasziniert. Schon vor dem Beginn unserer Reise hatten wir uns mit der Kraft des Unterbewusstsein und der Kraft des positiven Denkens auseinandergesetzt. Dies zu vertiefen ist auch eines der Ziele unserer Reise. (Vielleicht wird es dazu auch einmal einen eigenen Beitrag geben…) Ein netter Nebeneffekt unseres Gesprächs ist die Erholungszeit im warmen und gemütlichen Hostel, da wir doch etwas erkältet sind von den letzten Tagen und ein wenig Ruhe gut gebrauchen können.
Am Nachmittag machen wir einen Spaziergang durch die Stadt. Wir überqueren als erstes die Karla Marksa Straße, welche die komplette Innenstadt durchläuft. Unser Ziel ist das Quartier 130, ein relativ junges Stadtviertel von Irkutsk. Dort wurden viele neue Holzhäuser errichtet, wodurch an die für Irkutsk und Sibirien so typische Holzhausarchitektur erinnert werden soll. Diese sehen wir allerdings auch schon auf dem Weg zum Quartier 130 in den kleinen Nebenstraßen, die wir entlang laufen.
Kurz vor dem Eingang zum Quartier 130 entdecken wir noch die schöne und leuchtende Heilig-Kreuz-Kirche auf einem großen Areal.
Das Quartier 130 macht dagegen an sich nicht viel her. Für unseren Geschmack gibt es zu viele beliebige Restaurants und Souvenirgeschäfte. In der Sonne sehen einige Häuser aber ganz nett aus und wir machen noch ein Touri-Foto vor dem I-love-Irkutsk-Aufsteller. Die Häuser außerhalb des Quartiers 130 haben uns jedenfalls wesentlich besser gefallen. Wenn wir es uns wünschen könnten, hätten wir lieber die alten Häuser renoviert, statt neue zu bauen …
Zum Abendessen möchten wir ein burjatisches Restaurant testen, welches uns im Hostel empfohlen wurde. Die Burjaten sind eine Volksgruppe, die früher auch in Irkutsk wesentlich zahlreicher anzutreffen war und heutzutage weiter im Osten beheimatet ist, insbesondere in Ulan-Ude und Tschita, unserer nächsten Etappe auf unserer Reise durch Russland. Da uns diese Kultur interessiert, können wir uns zumindest kulinarisch schon einmal ein wenig darauf einstimmen und zum Beispiel das burjatische Gericht Pozy probieren. Dabei handelt es sich im Prinzip um eine Form von Dumpling mit einer stark gewürzten Fleischfüllung. Darüber hinaus bestellen wir noch Vareniki mit Käse und zwei verschiedene Suppen. Zum Nachtisch gibt es Pfannkuchen aus Hüttenkäse. Das Essen schmeckt uns gut und wir gehen gesättigt nach Hause. Abends sitzen wir noch länger im Aufenthaltsraum des Hostels, beschäftigen uns mit weitglücklich, unterhalten uns ein wenig mit anderen und lassen den Tag gemütlich ausklingen.
Am nächsten Tag scheint mal wieder die Sonne, wie eigentlich fast immer in unseren Tagen in Sibirien, und wir machen uns auf zu unserem nächsten Stadtspaziergang. Noch haben wir keine Parallele zu Paris entdecken können. Also werden wir heute die Augen aufhalten.
Zunächst sehen wir am Beginn der Fußgängerzone einige Arbeiter ungesichert auf dem Dach eines Kaufhauses stehen, die den Schnee nach unten schaufeln. Angesichts der Schneemengen am Boden machen sie dies auch schon eine ganze Weile… Später beobachten wir an anderen Orten der Stadt, dass der Schnee auch von LKW abtransportiert wird. Dies erklärt, warum wir im Stadtbild so wenig Schnee sehen.
Wir laufen über die Hauptstraße und ein wenig aus dem Zentrum heraus. Im Nordwesten der Innenstadt soll noch eine große Zahl der historischen Holzhäuser erhalten sein, die glücklicherweise nicht einem riesigen Stadtbrand zum Ende des 19. Jahrhunderts zum Opfer fielen. Wir schlendern durch mehrere der kleinen Straßen. Die Holzhäuser sind mit ihren verzierten Fenstern und Dachgiebeln und sonstigen Schnitzereien sehr fotogen.
Bevor wir noch ein paar Häuser zeigen, wollen wir noch einen kurzen Einschub zur Entstehung der Schnitzereien einfügen, da uns dies so interessiert hat: Der Ursprung ist wohl in der slawischen Mythologie zu suchen. Die Menschen, die vor Christus in Sibirien wohnten, wollten das eigene Haus vor bösen Kräften schützen. Dazu haben sie alle Öffnungen mit Symbolen aus ihrem Alltag versehen, wie z.B. Pflanzen, Regen oder Samenkörner. Besonders wichtig war jedoch die Sonne, rund um das Fenster. Alle Formen haben dann gemeinsam einen Schutzzauber dargestellt, der die bösen Kräfte vor dem Eindringen in das Haus abhielt. Dadurch hatten alle Häuser, insbesondere auf dem Land, viele Verzierungen rund um die Fenster.
In den Städten, so also auch in Irktusk, wurde dieses Vorbild später ohne den eigentlichen „Sinn“ übernommen. Reiche Kaufleute haben ihre Häuser um 1900 mit Schnitzereien versehen, um eine gute Außenwirkung zu erzielen. Ihre Häuser sollten einfach pompös aussehen. Dabei wurden auch geschwungene Formen und Schnörkel des Barock aus Europa verwendet. Bei unserem Spaziergang haben wir überwiegend die letztere Variante gesehen.
Dass die Holzhäuser heute unter Denkmalschutz stehen, stellt allerdings auch ein Problem dar. Die Häuser waren zum Zeitpunkt, als sie gebaut wurden, zumeist nicht an die Zu- und Abwasserversorgung angeschlossen. Wegen des Denkmalschutzes dürfen sie nur bedingt restauriert werden und dieser Zustand der fehlenden Ver- und Entsorgung hält weiterhin an. Ihr könnt Euch also vorstellen, unter welchen Bedingungen die Menschen dort leben. Die Häuser werden heute fast ausschließlich von der ärmeren Bevölkerung bewohnt, wodurch auch soziale Probleme in diesen Wohnvierteln entstehen. Schade, dass offensichtlich niemand die notwendigen Mittel aufbringt oder aufbringen kann, um diese tolle Architektur mit den aufwendigen Schnitzereien zu erhalten.
Irgendwann haben wir genug Holzhäuser gesehen und sind dann auch hungrig. Glücklicherweise erblicken wir bald eine Stolovaya. Stolovayas sind mit Kantinen in Deutschland zu vergleichen, nur sind diese in Russland öffentlich und bieten (sehr) gutes Essen für sehr wenig Geld. So können wir Tee und Gebäck für weniger als 100 Rubel, also etwas weniger als 1,50 €, im Warmen zu uns nehmen. Insbesondere die herzhaften Teilchen, gefüllt mit Kartoschka (Kartoffeln), schmecken uns sehr gut und wir holen uns beim nächsten Supermarkt noch weitere für unterwegs. Als wir weiter laufen, erblicken wir noch einen Hund beim Spaziergang; mal wieder voll eingepackt mit dicker Jacke und Schuhen. Über den Sinn wollen wir uns nicht äußern, aber es ist ein lustiger Anblick.
An dieser Stelle möchten wir noch unsere Gedanken zu dem besuchten beziehungsweise, um ehrlich zu sein, zu allen bisher in Russland besuchten Supermärkten loswerden! Es gibt meterweise Regale, die so aussehen:
Wir wissen nicht, ob dies ein Phänomen entlang der Transsib-Strecke ist, um den Reisenden eine umfassende Auswahl an Essen anzubieten. Während der Bahnfahrt haben wir auf jeden Fall mehr als genug Mitfahrer mit diesen Packungen im Zug gesehen. Krass, wieviel Plastikmüll da zusammenkommt, oder? Um es kurz zu machen: Jeder sollte überlegen, ob er das wirklich kaufen möchte! Es gibt genug Alternativen. Wir hatten uns auch Nudeln, Haferflocken usw. aus Deutschland mitgebracht und uns zudem auf den lokalen Märkten mit haltbaren Lebensmitteln eingedeckt. Außerdem kann sich jeder wunderbar an den Haltestellen mit leckerem selbstgekochten Essen versorgen, was die Einheimischen dort verkaufen. Das schmeckt besser, ist günstiger und so werden dann auch noch die Bewohner vor Ort unterstützt, anstatt irgendwelcher großer Firmen, die Massenware in Plastik anbieten.
Neben der Karla Marksa Straße und der Karla Libknechta Straße, durch die wir heute schon gelaufen sind und die wohl in vielen Städten Sibiriens zu finden sind, gibt es hier auch noch die Fridrikha Engel’sa Straße. Eine kurze Erinnerung an die Heimat… In dieser Straße steht in Irkutsk das sehr schön restaurierte Europa-Haus, welches wir uns noch angucken möchten. Es wurde um 1900 von einem wohlhabenden Kaufmann als Wohnhaus gebaut. Es weist derart viele Schnitzereien auf, dass die Verzierungen wie eine geklöppelte Spitzenserviette aussehen. Daher wird das Haus von den Einheimischen auch Spitzenhaus genannt. Vor etwa 20 Jahren wurde es restauriert und wird jetzt von der Stadtverwaltung genutzt. Direkt gegenüber auf der anderen Straßenseite steht allerdings ein großer, etwas heruntergekommener Plattenbau, der die Szenerie irgendwie nicht ganz passend erscheinen lässt.
Später gehen wir noch auf den Markt von Irkutsk, der neben einigen einfachen Ständen im Freien auch eine überdachte Markthalle hat. Es gibt eine große Auswahl an Keksen, Backwaren, Obst und Gemüse und selbstverständlich wird auch der Omul angeboten. Ach, wie haben wir den schon vermisst seit dem Baikalsee … *grins
Wir spazieren weiter durch die Fußgängerzone und möchten noch bis zur Angara gehen, die auf zwei Seiten die Innenstadt Irkutsks begrenzt. Unterwegs werden wir auf einmal von hinten auf deutsch angesprochen. Wir sind kurz verwundert, erblicken dann jedoch einen anderen Reisenden, den wir bereits in St. Petersburg getroffen hatten. Es ist interessant, dass wir uns trotz komplett anderer Route durch Russland noch einmal zufällig begegnen. Wir verabreden uns für den Abend und laufen erst einmal weiter.
Auf der Karla Marksa Straße kommen wir an einigen schönen Gebäuden, beispielsweise dem Schauspielhaus, der Verwaltung der Ostsibirischen Eisenbahn und dem Heimatkundemuseum vorbei. Nicht fehlen dürfen natürlich einige Holzhäuser… Außerdem finden wir die obligatorische Lenin-Statue, die bisher in jeder russischen Stadt zu sehen war. (Neben der Statue findet sich der Name Lenins auch oft für die Bezeichnung der Hauptstraße oder einer anderen wichtigen Straße einer Stadt.)
An unserem Ziel, dem Angara-Ufer im Süden der Stadt, steht ein großes Denkmal für den Zar Alexander III., der den Bau der Transsibirischen Eisenbahn erlassen hat. Der Blick auf die halb zugefrorene Angara im Hintergrund ist in der Abenddämmerung sehr schön. Auf der anderen Seite des Flusses können wir außerdem den Bahnhof und die vorbeifahrenden Züge der Transsib sehen. Da die Sonne untergeht, wird es allerdings ziemlich schnell richtig kalt. Wir machen uns auf den Rückweg zum Hostel.
Warum Irkutsk das „Paris Sibiriens“ genannt wird, hat sich uns zumindest vom Stadtbild und der Architektur her nicht erschlossen. Aber in der Vergangenheit war Irkutsk lange ein wichtiger Handelsplatz. Es bestanden wichtige Routen über die Mongolei bis nach China. Größere Goldvorkommen in der Region haben zusätzlich zu einem Reichtum in Irkutsk geführt. Außerdem wurde Irkutsk u.a. durch die Dekabristen auch das geistige und kulturelle Zentrum Sibiriens (dazu werden wir in unserem nächsten Beitrag über Tschita noch etwas schreiben). So wurde um 1900 der Spitzname Irkutsks geprägt. Heute beherbergt die Stadt eines der größten Kunstmuseen Russlands und Irkutsk ist noch immer das kulturelle Zentrum Sibiriens.
Am nächsten Morgen verlassen wir Irkutsk bei -19°C und steigen in die Transsib ein, um weiter gen Osten zu fahren. Es wird unsere kürzeste Etappe, denn wir steigen in der nächsten Nacht in Tschita schon wieder aus.
Auch wenn unsere Vorstellung der Stadt Irkutsk aufgrund der Bezeichnung „Paris Sibiriens“ eine andere war, hatten wir eine schöne Zeit dort. Könnt ihr Euch auch einen Städtetrip im russischen Winter vorstellen?
Viele Grüße Thomas und Jenny
an paris erinnert es mich auch nicht, aber ich finde die architektur absolut zauberhaft.
Das stimmt. Zum Glück hat Irkutsk eine ganz eigene Architektur und dadurch einen besonderen Charme.
Eine interessante Stadt. Ihr seid ja gut informiert
Ja, wir hatten noch ein interessantes Buch über die Baikalregion gelesen, was bei uns im Hostel lag. So waren wir informiert und konnten die Stadt gleich mit anderen Augen sehen.